Nach dem verheerenden Bergsturz in Blatten ist insbesondere auch in deren Partnergemeinde Köniz die Betroffenheit gross. Gemeindepräsidentin Tanja Bauer hat Blatten Unterstützung zugesichert, nicht nur im Moment, sondern langfristig. Generell müsse sich die Schweiz Gedanken machen, wieviel ihr der Schutz und die Erhaltung ihrer Bergdörfer wert sei.
«Wir hatten letzten November eine Gemeinde-Klausur in Blatten und haben uns überlegt, auch diesen Herbst wieder dorthin zu fahren, weil es einfach so wunderschön ist… war. Es ist für mich immer noch unfassbar», sagt Tanja Bauer und man spürt ihre Betroffenheit. «Auch wenn ich mir vorstelle, was das für die Menschen dort bedeutet, für die Familien, die ihr Daheim verloren haben, in welchem sie teilweise seit Generationen lebten. Die Hoteliers, die ihre ganze Existenz unter 100 Metern Schutt begraben sehen. Wenn einfach nichts mehr übrig ist.» Deshalb sei für Köniz klar, dass sie ihre Partnergemeinde nicht im Stich lassen werde.
Bereichernder Austausch
Seit 1965 besteht die Partnerschaft zwischen den beiden Gemeinden und wird aktiv gelebt. «Der Austausch ist für beide sehr bereichernd. Wir konnten gegenseitig viel voneinander lernen», so Tanja Bauer. «Auch haben wir bereits des Öfteren nach Lawinen oder Unwettern geholfen, weil wir als grosse Gemeinde natürlich über viel mehr Leute verfügen», erklärt die Gemeindepräsidentin. «Auch bei der Instandhaltung der Wanderwege beispielsweise haben wir mit Spezialisten unterstützen können.» Andererseits habe Blatten vielen Könizerinnen und Könizern dank vergünstigter Skiabonnementen zu unvergesslichen Winterferien verholfen oder den Schülerinnen und Schülern einmalige Klassenlager in der herrlichen Natur ermöglicht. Deshalb sei auch die Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung riesig. «Die Könizerinnen und Könizer fühlen sich Blatten verbunden, die Solidarität ist gross. Das zeigen die vielen Rückmeldungen, die bei uns eingehen», sagt Bauer.
Köniz steht bereit
Die Gemeinde Köniz hat Blatten denn auch Unterstützung angeboten, insbesondere im Bereich Zivilschutz und steht in Kontakt mit den Blattner Behörden. «Aktuell koordinieren der Führungsstab, Armee, Kanton und weitere Akteure die Unterstützung vor Ort mit hoher Professionalität und riesigem Einsatz. Sollte es Bedarf geben, könnte Köniz Blatten in den nächsten Wochen und Monaten unterstützen», führt die Gemeindepräsidentin weiter aus. «Wichtig ist insbesondere, dass wir auch weiterhin und langfristig unterstützen. Denn es wird noch lange dauern, bis in Blatten wieder eine gewisse Normalität herrschen kann.» Und wie diese aussehen werde, könne auch noch niemand sagen. Einfache Lösungen werde es nicht geben, da fast das ganze Dorf unter einem riesigen Schuttkegel begraben liege.
Ausserordentliches Ereignis
Es ist denn auch eine beinahe unvorstellbare Masse an Stein, Eis, Schlamm und Wasser, welche Teile von Blatten und den Weiler Ried unter sich begraben hat. Zwei Kilometer lang und stellenweise bis zu 200 Meter breit liegt der Schuttkegel im Tal. Der Gletscherabbruch am Birchgletscher war denn auch mit seinem Ausmass und den Folgen eine historische Ausnahme im Schweizer Alpenraum, schreibt die eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL. «Instabile Zonen hat es zwar in den Alpen schon immer gegeben», sagt Naturgefahrenexperte Federico Ferrario gegenüber Swissinfo. «Doch mit dem Klimawandel werden sie auch in höheren Lagen zunehmend zum Risiko.» Schmelzende Gletscher und tauender Permafrost – oft als der «Leim der Alpen» bezeichnet – lockern die Hänge und erhöhen die Gefahr von Bergstürzen. «Die Destabilisierung von Felswänden ist ein Prozess, der Tausende Jahre dauern kann», erklärt Robert Kenner von der WSL. «Aber Wetter und Klima können den Moment des Ereignisses beeinflussen.» Mithilfe von Satelliten, Radarsystemen und Sensoren im Boden lassen sich gefährdete Hänge heute laufend überwachen. Zeigen sich Auffälligkeiten, können rechtzeitig Warnungen ausgegeben werden. «Die Schweiz ist in der Überwachung der Alpen weltweit führend», betont Yves Bühler vom Institut für Schnee- und Lawinenforschung. Laut dem Bundesamt für Umwelt gelten rund sechs bis acht Prozent des Schweizer Gebiets als instabil, vor allem in alpinen und voralpinen Regionen. Nach einem Unglück wird jeweils neu geprüft, ob ein Wiederaufbau vor Ort möglich ist. Gebaut wird nur, wo es als sicher gilt. Ob das betroffene Dorf am selben Ort wiederentstehen kann, ist deshalb noch offen.
Grundsatzdebatte Wiederaufbau
So folgte denn auch bereits am Wochenende nach dem Unglück die politische Grundsatzdebatte über den Erhalt der Alpentäler. Am Montag darauf veröffentlichte deshalb der Walliser Bote unter dem Titel «Bedenklicher Angriff auf Bergdörfer» einen scharfen Kommentar von Chefredaktor Armin Bregy. Eine Politik, die Milliarden zur Rettung von Banken bereitstelle, aber die Berggebiete fallenlassen wolle, habe «nicht nur das Augenmass verloren, sondern auch den Kompass», schreibt er. Und Francesco Walter, Gemeindepräsident von Ernen im Goms, warnt vor einem fatalen Signal. Wer die Bergtäler aufgebe, handle nicht nur kurzsichtig, sondern verletze all jene zutiefst, die hier verwurzelt seien und ihr ganzes Leben investiert hätten. «Auch in Basel kann ein Erdbeben passieren – dennoch fordert niemand, die Stadt zu räumen. Man baut einfach erdbebensicher», so Walter. Am Sihlsee seien Millionen investiert worden, um Zürich zu schützen. «Und niemand käme auf die Idee, das Bauen entlang der Sihl zu verbieten.»
Absolute Sicherheit gibt es nirgends
Dies bestätigt auch Geograf Werner Bätzing gegenüber der Zeitung Bund und spricht sich klar für einen Wideraufbau von Blatten aus. «Ich bin prinzipiell der Meinung, dass es sinnvoll ist, die Siedlung Blatten in der Nähe wieder aufzubauen», sagt der emeritierte Professor für Kulturgeografie. Zwei häufige Gegenargumente lässt er nicht gelten. Etwa die Sorge, es sei zu gefährlich, Blatten neu zu errichten. «Nein», sagt Bätzing. «Alle Dörfer, die vor 1955 entstanden sind, liegen typischerweise an sicheren Orten.» Früher hätten sich die Menschen auf Erfahrung und Tradition verlassen, nicht auf technische Machbarkeit. «Deshalb sind die meisten alten Siedlungskerne nicht das Problem», betont der Geograf. Dennoch kam es dort nun zu einem Bergsturz. Für Bätzing ist das kein Widerspruch: «Bei diesem Bergsturz handelt es sich um ein einmaliges Ereignis – um einen jener Einzelfälle, die nur selten eintreten, aber manchmal eben doch.» Eine hundertprozentige Sicherheit könne man ohnehin nirgends erwarten: «Auch nicht im Flachland und in den Städten.»
Wichtig für die ganze Schweiz
Ähnlich sieht das auch Tanja Bauer. Ihre Familie stammt ursprünglich aus dem Binntal, dort ist auch Tanja Bauers Heimatort. «Ich bin mehrmals pro Jahr im Binntal. Zudem wuchs ich in einem kleinen Dorf im Oberland auf.» Das erklärt ihr Verständnis und das Herz für die Bergregionen. Sie gibt ausserdem zu bedenken, dass gerade weil in den Ballungszentren immer verdichteter gebaut würde, es für die Menschen auch Erholungsraum brauche. Und dort wiederum Menschen, die dafür sorgten, dass Hotels, Restaurants, eine gute Infrastruktur bestehe. «Wir müssen uns als Schweiz die Frage stellen, was uns ein solcher Erholungs- und Naturraum wert ist. Ausserdem gehören Berge und ihre funktionierenden Dörfer zu unserer Identität, sie sind Teil unserer Kultur», sagt die Könizer Gemeindepräsidentin und fügt an: «In den Bergdörfern leben Menschen, die wichtige Aufgaben für das ganze Land übernehmen. Sie pflegen Schutzwälder, bewirtschaften Alpen, betreiben Stauseen und Turbinenanlagen oder arbeiten im Tourismus. Ihre Arbeit trägt wesentlich zur Sicherheit, Energieversorgung und Wertschöpfung in der Schweiz bei. Auch bei uns im Unterland.» Deshalb bleibe Köniz selbstverständlich Partnergemeinde von Blatten und helfe personell, aber auch finanziell und auf lange Sicht, bei dessen Wiederaufbau. «Den von der Katastrophe betroffenen Menschen wünschen wir jetzt erst einmal von Herzen viel Kraft in dieser schwierigen Zeit des Schocks und der grossen Unsicherheit. Wir sind da, sobald es uns braucht.»
Foto: Hansueli Pestalozzi/WSL/ Dan Zaugg

