Mit spannenden Gästen rückt die Veranstaltungsreihe «Ein Abend im Museum – Gegen das Vergessen» ausgewählte Themen der Ausstellung «Vom Glück vergessen. Fürsorgerische Zwangsmassnahmen in Bern und der Schweiz» ins Zentrum.
Die Ausstellung «Vom Glück vergessen. Fürsorgerische Zwangsmassnahmen in Bern und der Schweiz» im Bernischen Historischen Museum beleuchtet ein dunkles Kapitel der Schweizer Geschichte: Während Jahrzehnten griff der Staat mit fürsorgerischen Zwangsmassnahmen tief ins Leben zahlreicher Menschen ein. Oft aufgrund ihrer prekären sozialen oder wirtschaftlichen Lage oder einer Lebensweise, die von bürgerlichen Normen abwich.
Was die Besuchenden an den vier Abenden erwartet und warum die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit auch eine Verantwortung der Gegenwart ist – darüber haben wir mit Rahel Schaad, Geschichtsvermittlerin und Projektleiterin der Abendreihe, gesprochen. Wir treffen sie bei der Installation «Namen gegen das Vergessen»: 10 826 weisse Punkte auf einer dunkelblauen Wand. Jeder Punkt steht für einen Menschen, der bis im Sommer 2024 vom Bund einen Solidaritätsbeitrag als Anerkennung des erlittenen Unrechts erhalten hat. Gleich dahinter befindet sich der Ausstellungs-Eingang. «Ausstellungen bieten jeweils eine Auslegeordnung eines Themas an», erklärt Schaad. «Unsere Abendreihen greifen einzelne Schwerpunkte auf, die besonders aktuell sind oder die sich im Dialog mit Fachpersonen vertiefen lassen.» Ziel sei es, Denkanstösse zu geben und den Besuchenden Raum für Fragen zu bieten. Dafür lädt das Museum an vier Abenden verschiedene Fach- und Erfahrungsexpert:innen zum Gespräch ein.
Betroffene erzählen
Bis in die 1970er-Jahre waren in der Schweiz Hunderttausende von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen betroffen, allein im Kanton Bern waren es mindestens 50‘000. Viele wurden entmündigt, verdingt, fremdplatziert und erlebten Gewalt oder Missbrauch. Die erste Abendveranstaltung gibt nun diesen Menschen eine Bühne. «Acht Betroffene von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen erzählen im Rahmen einer ‘Living Library’ ihre Geschichte», schildert die Projektleiterin das Setup. «Durch dieses intime Format schafft das Museum Raum für unmittelbare, emotionale Begegnungen zwischen dem Publikum und den Zeitzeug:innen.» Während langer Zeit waren die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen in der Schweiz ein Tabuthema. Dass das düstere Kapitel heute aufgearbeitet und thematisiert wird, ist auch der Verdienst von Betroffenen, die gegen das Erlittene ihre Stimme erhoben haben. Umso wichtiger sei es, dass wir den Betroffenen, die noch unter uns sind, zuhören, führt Schaad weiter aus. «Nur durch sie können wir verstehen, was die Massnahmen und deren Folgen für den einzelnen Menschen bedeutet haben. Und wir können sie fragen, was sie sich von unserer Gesellschaft gewünscht hätten oder noch heute wünschen.»
Als Unrecht anerkannt
2013 entschuldigte sich die Schweiz offiziell für die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen. Ein System, das Menschen entrechtete und Familien zerriss. «Die zweite Veranstaltung der Abendreihe fragt, wie es zu diesen Unrechtsmassnahmen kommen konnte und beleuchtet den Kontext und die geschichtlichen Hintergründe dieser Zeit», erläutert die Geschichtsvermittlerin. «Aber wir stellen auch Fragen, die unsere Gegenwart und die Zukunft betreffen: Wie gehen wir heute mit marginalisierten Menschen um? Wie kann ein solches Unrecht zukünftig verhindert werden? Und wie steht es um die heutigen Wertvorstellungen unserer Gesellschaft?» Diese Fragen diskutiert Moderatorin Kathrin Winzenried am 7. Mai 2025 gemeinsam mit Paola De Martin (Tochter, Nichte und Enkelin von Saisonnierfamilien), Urs Germann (Historiker) und Loretta Seglias (Historikerin).
Ein schmaler Grat
«Der Blick in die Geschichte zeigt auch, wie schmal der Grat zwischen Fürsorge und Übergriff ist», gibt Rahel Schaad im Hinblick auf den dritten Abend zu bedenken. «Es braucht eine konstante gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Frage, wann staatliche Eingriffe ins Privatleben gerechtfertigt sind – und wie solche Massnahmen kritisch überprüft und weiterentwickelt werden können.»

Am 14. Mai nimmt sich ein Podium aus Fachpersonen aus der Forschung, der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) sowie Vertreter:innen des Vereins Careleaver diesem Spannungsfeld an. Gemeinsam diskutieren sie über aktuelle Herausforderungen, Reformansätze und den Umgang mit Macht, Verantwortung und Vertrauen in der heutigen Fürsorgepraxis.
Wer darf Kinder kriegen?
Die letzte Veranstaltung der Abendreihe ist eine Kooperation mit dem ALPS Alpinen Museum der Schweiz und thematisiert diejenigen fürsorgerischen Zwangsmassnahmen, die gezielte Eingriffe in den weiblichen Körper und die Familienplanung umfassten. Mehrere tausend Frauen wurden aufgrund psychiatrischer Gutachten zwangssterilisiert. Müttern wurden ihre Kinder direkt nach der Geburt weggenommen und zur Adoption freigegeben. Ähnliches geschah in Grönland. Auch dort kam es in den 1960er- und 1970er-Jahren auf dänische Anordnung hin zu Zwangsadoptionen, und tausenden Frauen wurden – ohne deren Wissen – Verhütungsspiralen eingesetzt. Diese Praxis ist Ausdruck einer Gesellschaft, die bestimmten Menschen das Recht auf Elternschaft absprach. «Heute diskutieren wir oft vor allem über das Recht auf Abtreibung», sagt Rahel Schaad, «doch grundsätzlich geht es genauso um die Frage: Wer darf Kinder haben?» Unter der Moderation von Kathrin Winzenried diskutieren Melinda Nadj Abonji (Autorin), Thomas Huonker (Historiker) und Nicole Graaf (Journalistin) über den gesellschaftlichen und politischen Kontext dieser Massnahmen. «Wir möchten unter anderem aufzeigen, welche Denkweise zu diesen Eingriffen geführt hat», erklärt Schaad. «Denn die Auseinandersetzung mit der Geschichte ist entscheidend, um die Gegenwart zu verstehen – und um die Strukturen der Zukunft so zu gestalten, dass sich vergangenes Unrecht nicht wiederholt.»
Fotos: Stefan Wermuth, Daniel Zaugg